Mensch, du fehlst

08. Okt 2022

Neulich auf einem langen Gang: Ein Paar trifft eine Bekannte. Für alle gut hörbar empören sie sich miteinander. Wie schön und unbeschwert es doch in der DDR gewesen sei;

Merkel hätte weggemusst; gleiches gilt auch für die Russlandsanktionen und dann möglichst schnell vergessen, dass die Ukraine Opfer eines Angriffskrieges wurde.

Sie warteten nur auf das nächste Stichwort, um dann selbst in den Kanon der Parolen einzustimmen. Die entscheidenden Worte fielen jedoch gleich zu Beginn des Gesprächs. Die Bekannte hatte kurz vom Tod ihres Mannes und der Einsamkeit erzählt, die sie seitdem erlebte. Ein kurzer Einblick in ihr Seelenleben. Zehn lange Minuten reden sich die drei in Rage, dann verabschieden sie sich und gehen ihrer Wege. Auf dem Gang kehrt wieder stille Betriebsamkeit ein.

In meinem Kopf hallt diese Begegnung nach und mir kommt ein zwanzig Jahre altes und doch zeitloses Lied in den Sinn: „Und der Mensch heißt Mensch - weil er vergisst, weil er verdrängt, und weil er schwärmt und stillt, weil er wärmt, wenn er erzählt. Und weil er lacht, weil er lebt. Du fehlst.“

Über den Menschen ist einiges zu sagen – über seine Liebe und Sehnsüchte, über das, was er verdrängt oder nicht wahrhaben will. Das Wichtigste in Grönemeyers Lied „Mensch“ droht allerdings schnell überhört zu werden: Der Mensch, er fehlt. Er fehlt, wo Menschen, die eine andere Meinung haben, zu Holzschnitten herabgesetzt werden und nichts mehr zwischen schwarz und weiß zu sein scheint. Er fehlt, wo blinde Wut zu verbalen Entgleisungen führt, die schließlich in körperliche Gewalt münden. Er fehlt, wo die Sorgen um den eigenen Besitzstand die Solidarität mit dem Nächsten verhindern. Der Mensch, er fehlt an ziemlich vielen Stellen. Dabei wäre er zu so viel anderem fähig: zum Verzeihen, zu Worten, die auf wohltuende Weise zu Herzen gehen, zu ausgelassener Fröhlichkeit, zur Achtung für die Menschen um ihn herum, besonders die Andersdenkenden, zum Leben in all seinen Höhen und Tiefen.

Mir kommen noch andere Worte in den Sinn. Sie sind wesentlich älter, aber ebenfalls aktuell und stammen aus dem Buch der Psalmen: „Was ist der Mensch, dass du an ihn denkst, das Menschenkind, dass du dich seiner annimmst?“ (Psalm 8,5) Wie soll das gehen, dass sich Gott der Menschen annimmt? Dass er, der voller Liebe und Gerechtigkeit ist, nicht an ihnen verzweifelt, sondern immer wieder neue Anfänge ermöglicht? Was bleibt, ist das feste Vertrauen darauf, dass dies für Gott machbar ist: Er wischt die Schattenseiten eines Menschen nicht einfach beiseite – und nimmt sich trotzdem des Menschen an. Er wendet sich nicht ab, sondern liebevoll hin. Und Gott traut dem Menschen ziemlich viel zu. Deshalb: Wenn wieder Grönemeyers „Mensch“ in meinem Kopf läuft, dann füge ich trotzig hinzu: Du fehlst. Mensch, zeige dich.

Saskia Lieske


Dr. Saskia Lieske

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