Vom „Hosianna“ zum „Kreuzige ihn“

08. Apr 2022

Wenn ich von großen begeisterten Menschenmassen höre oder lese, bekomme ich ziemlich zwiespältige Gefühle. Einerseits erinnere ich mich dabei an gute eigene Erfahrungen, andererseits können Ansammlungen begeisterter Fans mir Angst machen. Ich weiß, wie schnell Begeisterung ins Gegenteil umschlagen kann, Enthusiasmus hat ein kurzes Verfallsdatum.

Davon berichtet die biblische Geschichte, die dem Sonntag Palmarum ihren Namen gegeben hat. Jesus zieht in Jerusalem ein. Die Menschen dort empfangen ihn mit Glanz und Gloria. Sie schmücken seinen Weg. Immer wieder ertönen Hochrufe: „Hosianna! Gelobt sei, der da kommt im Namen des Herren. Hosianna!“

Er ist in diesem Augenblick einer, zu dem sich aufsehen lässt. Er hat das Besondere, das andere nicht haben. Glaubwürdigkeit und Führungskraft. In aller Größe, die ihm zugetraut wird, steckt eine tiefe Hilflosigkeit. Jesus soll denen, die ihm zujubeln, helfen – helfen, das Leben besser zu gestalten und zu meistern. Zu vieles geht schief, ist ungerecht und undurchschaubar. Das “Hosianna” der Menschen heißt im Klartext: „Hilf uns!“

Wir wissen, der Weg, der mit dem glanzvollen Einzug in Jerusalem beginnt, endet wenig später an dem Kreuz von Golgatha. Aus dem Empfangsjubel wird der vernichtende Ruf: „Kreuzige ihn!“ Aufstieg und Fall können sehr eng beieinander liegen.
Erst ist jemand begehrt und geschätzt, wenig später wird er fallengelassen. Jesus ist nicht der Einzige, der das erleben und erleiden muss.
Dabei hätte er den Menschen helfen können. Gott kann auch dort wirken und Veränderungen bewirken, wo Menschen keine Wege und Auswege und Möglichkeiten mehr sehen.

Problematisch ist für viele, dass Gottes Wege oft anders aussehen als menschliche Vorstellungen. Viele denken, es muss alles so gehen und kommen, wie sie es wollen und sich vorstellen und dann kommen sie nicht damit zurecht, wenn es ganz anders kommt.

Jesus, den die Volksmenge in Jerusalem damals als den politischen Retter erwartete, kam nicht so. Er widerstand allen verlockenden Angeboten sich zum Herrscher zu machen und wurde stattdessen einer, der sich den Kleinen und Erniedrigten zuwandte. Er sah seine Aufgabe darin, den einzelnen Menschen nachzugehen. Sie waren und sind ihm wichtig. Für sie will er da sein. Für sie bringt er Zeit und Freundlichkeit mit. Viele verstehen das nicht.

Wie kann man nur so dumm sein und sich einer großen Karriere verweigern? Das verstößt gegen alle geltenden Überlebensprinzipien. Unverständnis schlägt schnell um in Ablehnung, Hass und Gewalt. Und dann wird am Kreuz derjenige getötet, der den Menschen in vergebender Liebe und Freundlichkeit begegnet ist.

Diejenigen, die seinen Tod beschließen und diejenigen, die ihn kreuzigen, haben geglaubt, dass sie Jesus damit besiegt und aus ihrem Leben erfolgreich verdrängt hätten. Doch am Ende ist wieder alles ganz anders.
Das Sterben Jesu und seine Auferstehung bekräftigen: Er bringt neue Hoffnung und neues Leben für alle, die sich danach sehnen. Menschlich gesprochen tat er im richtigen Moment das Falsche. Er nutzte die Gelegenheit nicht aus, obwohl die Situation günstig war.

Die Juden damals hatten die gleiche Sehnsucht wie wir: Sehnsucht nach dem Superstar, dem Übermenschen, dem Erfüller aller unserer Wunschträume. Aber Jesus enttäuscht. Er war so frei, dass er sich die Wahrheit und Aufrichtigkeit leisten konnte. Er war so frei, dass er bereit war, den unteren Weg zu gehen, nicht den der Gewalt.

Wohin der Weg der Gewalt führt, wissen wir, nicht erst seit den letzten Wochen. Wo finden Ratlosigkeit und Ohnmacht einen Ort?
Die Kirchen in unseren Städten und Dörfern bieten diesen Raum. In vielen Orten gibt es Friedensgebete. Sie laden ein, allem was uns bewegt eine "Sprache" zu geben. Gott, ist bei uns. In unserem Zorn. In unserem Zweifeln. In unserer Sorge. In unserer Trauer. In der Hoffnung, dass Gewalt und Tod nicht das letzte Wort haben.

Ursula Meckel