Brief von Überlebenden

07. Jun 2024

An die Enkelgeneration, an alle, die diese Demokratie schützen wollen.

Dieser Tage habe ich einen Brief bekommen. Geschrieben und unterzeichnet von Überlebenden des Holocaust. Unter ihnen Leon Weinlaub, 98 Jahre alt, Ruth Winkelmann, 95 Jahre alt, Georg Stefan Troller, 102 Jahre alt.

Sie schreiben an ihre Enkelgeneration, an die Erstwähler, an alle, die diese Demokratie schützen wollen: „Als die Rechten das letzte Mal an die Macht kamen, waren wir Jugendliche, teilweise Kinder. Sie versprachen, dieses Land wieder groß zu machen. Sie versprachen, dass die Deutschen zuerst kämen. Und sie fanden Schuldige für alles, was nicht funktionierte: Die Juden, die Sinti und Roma, die Homosexuellen, die Menschen mit Behinderungen…“

„Es fing nicht mit Konzentrationslagern an. Die Rechten sind damals nicht durch einen Staatsstreich an die Macht gekommen, sondern auf demokratischem Wege. Zu viele haben sie unterschätzt, sie nicht ernst genommen. Und in wenigen Jahren wurde Frieden zu Krieg. Wurde aus unserer Demokratie eine Diktatur.“

Heute funktioniert auch vieles nicht und macht Not: Ärztemangel, schwerfällige Verwaltungen, Bildungsnotstände, Überschwemmungen oder Dürre, Waldsterben, dazu leere Kassen und Fachkräftemangel und die stete Sorge vor einer Ausbreitung der Kriege.

Und auch heute gibt es Parolen und Versprechungen. „Wenn wir erst dran sind!“, „Wenn erst alle Ausländer raus sind aus Deutschland“, „Wenn erst die Grünen nirgendwo mehr regieren“, „Wenn erst…“
Und auch heute gibt es den Ruf nach einer starken Hand, die „aufräumt“. Laut einer Umfrage des Leibnizinstituts wächst die Zahl derer, die sich wieder eine Diktatur wünschen.

Es stimmt, Demokratien sind oft schwerfällig. Und es ist nicht gewiss, dass immer die besten Entscheidungen getroffen werden. Doch die Demokratien und das Europäische Haus haben uns in Mitteleuropa fast 80 Jahre Frieden beschert. Eine Zeitspanne, die keine Generation vor uns erleben konnte. Und einen Wohlstand und ein Maß an Sicherheit, das wir nicht hoch genug schätzen können.

Am Sonntag an der Wahlurne werden Entscheidungen getroffen. Wir brauchen weise Entscheidungen für weise Frauen und Männer, die unsere Kommunen und die Europäische Union leiten für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung. Im Sprüchebuch im Alten Testament heißt es: „Wo keine weise Führung ist, fällt ein Volk; wo aber viele Ratgeber sind, da geht es wohl.“ (Sprüche 11,14)

Die Unterzeichner des Briefes mahnen uns, wählen zu gehen: „Gebt der Demokratie eine Chance. Geht wählen. Zeigen wir gemeinsam, dass „Nie wieder“ nicht nur eine Phrase ist, sondern ein Versprechen.“

Pfarrer Frank Freudenberg