Ein trotziger Glaube

29. Okt 2022

Waren Sie schon mal in der Wittenberger Schlosskirche? Ende des 19. Jahrhunderts war ihr Umbau zu einem Denkmal der Reformation abgeschlossen; zu den Feierlichkeiten rundum das Reformationsjubiläum 2017 war sie auf Vordermann gebracht und aufwendig saniert worden.

Wer sie betritt, kommt ins Staunen: Von den Säulen blicken wichtige Persönlichkeiten der Reformation still und erhaben in den weiten Raum. Die Wappen von Fürstentümern, die der Reformation folgten, zieren die Wände. Unter der Kanzel die Grabmale von Martin Luther und – etwas weniger beachtet – Philipp Melanchthon. Ach, wie wunderbar ist es doch, Protestant zu sein, könnte manch einer denken. Greifbar wird diese überschwängliche Ergriffenheit in den englischsprachigen Gottesdiensten, wenn die heimliche Reformationshymne geschmettert wird: „Ein feste Burg ist unser Gott, ein starke Wehr und Waffen…“
Es passt zu den Bildern, die teilweise von Martin Luther kursieren. Selbstbewusst steht er auf Denkmälern. Dient als ein Sinnbild für den kleinen Mann, der gegen Autoritäten aufsteht. Sagt mit kräftiger Stimme „Hier stehe ich, ich kann nicht anders.“ Und dichtete eben jenes Trotz-Lied.
Andererseits: Das Gebet, was er dafür umschrieb, der 46. Psalm, hat bei allem Trotz auch einen anderen Klang in seiner Melodie: Es stammt aus dem Mund der Israeliten, die viele Wüstenzeiten erlebten und ihre Zuversicht auf Gott setzten, als alle anderen Sicherheiten zerstört wurden. Es wurde gebetet und vertont von Martin Luther, der wusste, wie tief der Mensch durch Süchte, Neid und Überheblichkeit fallen kann, und der angesichts dieser menschlichen Verlorenheit nach einem gnädigen Gott suchte.
Es wird heute gebetet und weitergegeben von Menschen, die in U-Bahn-Schächten Schutz vor russischen Bomben suchen, Menschen, die um ihr Leben fürchten, weil sie sich zu Gott bekennen, Menschen, die am Grab ihres totgeborenen Kindes stehen. Und die in ihrer Verzweiflung trotzig an Gott festhalten: „Der Herr Zebaoth ist mit uns, der Gott Jakobs ist unser Schutz.“
Ob ich es werde sagen können, wenn ich in großer Anfechtung und in meinen Grundfesten erschüttert bin? Wenn meine Welt voll Teufel wär‘ und mich verschlingen will, würde ich mich nicht fürchten? Ehrlich gesagt, weiß ich es nicht; ich hoffe es. Und bin deshalb dankbar für den Reformationstag. Denn auch darum dreht er sich, um das gemeinsame Erinnern, dass Gott in den größten Nöten und Anfechtungen Schutz und Zuversicht ist. So wie es die Israeliten vor 1000 Jahren bekannten, Martin Luther vor 500 bestärkte und wie es Menschen auch heute noch beten, manchmal ganz zaghaft, manchmal voller inbrünstiger Überzeugung.

Saskia Lieske