Wundern Sie sich ruhig!

29. Jan 2021

„Ich wundere mich über gar nichts mehr“ bedeutete in laxen Worten: Ich bin fertig mit der Welt. Diese Haltung kommt mir dieser Tage auch entgegen:

Als Jugendlicher habe ich von manchen Erwachsenen einen Spruch gehört, der auf mich sehr frustriert wirkte, so als hätten sie längst aufgehört, an etwas Gutes zu glauben. „Ich wundere mich über gar nichts mehr“ bedeutete in laxen Worten: Ich bin fertig mit der Welt.

Diese Haltung kommt mir dieser Tage auch entgegen: Menschen haben aufgehört, verstehen zu wollen, dass die Pandemie für alle eine Herausforderung darstellt - auch für die, die politische Entscheidungen treffen müssen. Statt zu unterstellen, dass diese Menschen ihr Bestes geben, wird unterstellt, dass sie unser Bestes wollen: unser Geld, unsere Freiheit, unsere Zukunft. Da mag ich gar nicht mitmachen; vielmehr will ich darauf bauen, dass ich mich noch wundern kann. Über Überraschendes, über überraschend Tröstliches.

Als ich jüngst mit einer sehr alten Dame über das Leben und auch über das Sterben redete, überraschte sie mich mit einem wirklich außergewöhnlichen Satz. „Wenn meine Eltern das mit dem Sterben überlebt haben, werde ich das wohl auch überleben!“ schmunzelte sie in sich hinein. Ausgerechnet sie, die so oft zweifelte, überraschte mich mit diesem widersprüchlichen und gerade deshalb so tröstlichen Satz. Trost auch für mich, unverhofft, wunderbar!

Gewundert hab ich mich auch an anderer Stelle. Als ich die Amtseinführung des neuen US-Präsidenten am Fernsehschirm verfolgte, liefen mir plötzlich Tränen über die Wangen. Ich wusste sie zunächst gar nicht einzuordnen, merkte aber bald, dass sie anzeigten, dass sich eine tief sitzende Anspannung löste. Bei Trumps gnadenlosem Populismus war es mir nie gelungen, ihm gute Absichten zu unterstellen. All die Lügen, all die Blenderei, all das Schwadronieren von alternativen Wahrheiten und Wahlbetrug hatten nun ein Ende. Sie hatten mir offenbar mehr zugesetzt, als ich dachte. Stattdessen erlebte ich ein farben-frohes Fest, das mir wunderbar zu Herzen ging und Hoffnung schenkte, das die vielen Probleme unserer Tage wieder gemeinsam gelöst werden können.

Ich glaube: Gott will, dass wir uns wundern, weil er dafür sorgt, dass nicht alles beim Alten bleibt. Ein altes Gebet aus der Bibel redet von der Hoffnung, "dass Güte und Treue einander begegnen, Gerechtigkeit und Friede einander küssen.“ (Psalm 85.10) Ich weiß: Gott hat Lust, solche Hoffnung mit beiden Händen zu verschenken. Wundern Sie sich ruhig: das tut gut in diesen Tagen. Versprochen!

Pfarrer Matthias Zentner