Umgang mit Fehlern

04. Jul 2021

„Du siehst den Splitter im Auge deines Bruders oder deiner Schwester. Bemerkst du nicht den Balken in deinem eigenen Auge?“ Jesus weist die Menschen auf ein offensichtliches Ungleichgewicht hin.

Die Häme ist manchmal unerträglich: Ein Shitstorm entlädt sich, wenn sich Bélá Réthy mal wieder bei der Kommentierung eines EM-Spiels versprochen hat. Die Glaubwürdigkeit einer jungen Frau, die sich für mehr Klimaschutz einsetzt, wird von einigen komplett infrage gestellt, wenn sie sich ein neues Smartphone kauft, statt ein altes Gerät zu upcyclen. Und wenn eine Prognose zur weiteren Entwicklung der Inzidenzen nicht zugetroffen hat, ist den Aussagen eines Wissenschaftlers gleich gar nicht mehr zu trauen.

Wehe der Person, die mal daneben liegt oder deren Handeln aus der Reihe tanzt. Wie leicht es doch ist, die Fehler der anderen zu sehen. Sie scheinen noch so gering zu sein, so stechen sie doch ins Auge.

 
Was man dabei leicht übersieht, sind die vielen Momente, in denen man selbst einen Fehler macht oder hinter den eigenen Ansprüchen zurückbleibt: die vergessene Hausordnung; das Tempo 40 in der Tempo-30- Zone; die kleine Lüge, um die Wahrheit zu umgehen; der geheim gehaltene Flirt.

 
„Du siehst den Splitter im Auge deines Bruders oder deiner Schwester. Bemerkst du nicht den Balken in deinem eigenen Auge?“ Jesus weist die Menschen auf ein offensichtliches Ungleichgewicht hin: Die Fehler der anderen erscheinen ungleich größer als die eigenen. Es scheint ein Schutzmechanismus zu sein: Solange ich auf die anderen schaue, muss ich mich nicht mit mir und meinem Leben auseinandersetzen. Denn das wäre an der einen oder anderen Stelle ziemlich unbequem.

 
Jenes Ungleichgewicht bedeutet jedoch nicht, dass Kritik an anderen gar nicht mehr möglich ist. Es geht vielmehr um eine Korrektur: Schau zuerst auf den Balken in deinem Auge, dann kannst du auch auf den Splitter beim anderen aufmerksam machen.

 
Wer bei sich anfängt, der ahnt: Die Lage ist oft vielschichtig, denn man macht selten absichtlich Fehler. Manchmal wollte man wenigstens noch ein bisschen was vom Wochenende haben, ein anderes Mal hatte man es eilig auf dem Weg zum Kindergarten.

 
Vielleicht wusste man sich in einer brenzligen Situation nicht anders zu helfen. Oder die Scham war so groß, dass Geheimhalten als vermeintlich bessere Alternative erschien. Wer einen ehrlichen Blick auf die eigenen Fehler und ihr Zustandekommen wirft, der gewinnt im besten Fall einen neuen Blick auf die Fehler der anderen Person. Dieser Blick ist dann nicht von Häme und Selbstgerechtigkeit geprägt, sondern von dem Versuch, den anderen und sein Handeln zu verstehen, und der Bereitschaft, nachsichtig zu sein.


Saskia Lieske