Positive Irritation

23. Jul 2021

Verwirrende Bilder flimmern dieser Tage über den Bildschirm: Ein feixender Ministerpräsident – während der Bundespräsident um tröstliche Worte für die Opfer der Flutkatastrophe ringt. Was ist da nur passiert?

Mehr noch irritiert mich an den Fernsehbildern, dass es ein kaum auszuhaltendes Nebeneinander unterschiedlichster Wirklichkeiten gibt: während im Vordergrund kein Stein mehr auf dem anderen steht, erkenne ich im Hintergrund unversehrte Häuser, intakte Landschaften. Wie kann dieses Nebeneinander sein? Ich erinnere mich an die Elbflut im Sommer 2002, als ich mir in meinem trockenen Keller in Wittenberg die Gummistiefel anzog, um nur wenige hundert Meter weiter durchs Wasser zu stapfen, um dabei zu helfen, zu retten, was zu retten ist. Was für eine verrückte Welt!

Mir fällt ein, was mir Hinterbliebene so oft berichten: dass sie erleben, wie ihre Welt von Trauer geradezu geflutet wird, auch hier kein Stein mehr auf dem anderen zu stehen scheint und ihre Aufgabe im nimmermüden Neuaufbau eines Lebens ohne den verstorbenen Menschen besteht – während bei anderen der Alltag einfach so weitergeht wie immer. Kaum verständlich dieses Nebeneinander unterschiedlichster Lebensleistungen: Auf der einen Seite die händeringenden Versuche, ins Leben zurückzufinden und auf der anderen Seite die Notwendigkeit, das eigene Leben mit all seinem Weh aber auch mit all dem Glück weiterzuleben. Wenn es gelänge, dass beide Seiten einander wahrnehmen, sehen, was bei dem je anderen gerade ist und dies auch zulassen, wäre viel geholfen. Dass der, der verschont geblieben ist, Augen und Herz öffnet für das, was not-wendig ist an Hilfe, scheint mir genauso wichtig, wie die andere Perspektive, von der mir eine Trauernde vor einiger Zeit berichtete: „Ja, zu meiner Trauerarbeit gehört auch, dass das Leben der Anderen weitergehen darf. Deren Glück kränkt mich manchmal sogar. Aber mein Schicksal wird mich aufmerksamer machen für andere Menschen in ihrer Not. Weil ich lerne, was mich tröstet, was mir gut tut, entwickle ich ein Gespür dafür, was der Andere gerade braucht.“ Ich finde: Das gilt fürs Trauern wie für Katastrophen.

Positiv irritiert hat mich, dass der Bürgermeister von Grimma, der Stadt, die zwei verheerende Überschwemmungen erlitten hat, nicht nur ermutigende Worte für die Menschen in den aktuell betroffenen Orte gefunden hat, sondern auch ganz selbstverständlich Kameradinnen und Kameraden der Grimmaer Feuerwehr losgeschickt hat, um zu helfen. Und was können wir tun? Die Augen nicht verschließen, Geld spenden, weil das gerade am meisten hilft. Vielleicht sogar losfahren und beim Aufräumen helfen. Und: die Hände falten und Gott zutrauen, dass sein Herz und seine Augen offen sind für das, was Menschen erleiden. Und ihm zutrauen, dass er weiß, wie das mit dem Trösten geht…

Pfarrer Matthias Zentner, Krankenhausseelsorger