„Lass strömen!“

15. Mai 2021

Der Sonntag Exaudi als Moment der Pause. Damit Raum wird für alles, was Gott mit uns vorhat.

Ich mag Berge. Vor zwei Wochen stand ich oben auf dem Brocken. Es gab einen leichten, herrlich frischen Wind. Klare, gute Luft. Ich liebe das, nach einem Aufstieg auf dem Gipfel eines Berges stehen, mein Blick schweift in die Ferne, ich atme aus und wieder ein und ich lasse die frische Luft durch mich hindurchfließen.

Mit dem Atmen ist es ja so eine Sache. Wir stehen in der Gefahr, falsch zu atmen. Viel zu hastig und dadurch zu flach. Dadurch schieben wir nur verbrauchte Luft hin und her. Erst durch das tiefe Aus- und Einatmen erhält unser Körper den so notwenigen Sauerstoff.

Oben auf dem Brocken besteht die Gefahr des flachen Atmens nicht. Da kann ich gar nicht anders als in vollen Zügen die Luft zu genießen.


Der Sonntag vor Pfingsten kann – sinnbildlich betrachtet – gesehen werden als der Moment, wo sich der Atem zwischen Ausatmen und Einatmen umdreht. Denn gerade ist etwas Wichtiges passiert und etwas Bedeutsames steht bevor. Passiert ist Christi Himmelfahrt, Pfingsten und das Geschenk des Heiligen Geistes stehen bevor.

Dass Jesus gen Himmel entschwindet, ist für die Jünger kein Anlass zur Freude. Eher ein Schreckmoment: Wo geht er hin? Sollen wir jetzt etwa allein ohne ihn sein? Der Geist, den Jesus versprochen hat ist noch nicht da. Sie halten den Atem an!


Solche Momente sind wichtig in einem Leben.
In jeder Lebenskrise ist es gut, erst einmal innezuhalten und zu prüfen, was mit mir ist. Nicht gleich weitermachen, Neues suchen. Nein, es ist besser, die Leere auszuhalten.

Aber wir müssen gar nicht an eine Lebenskrise denken. Wir kennen andere Schaltstellen, wo es uns ähnlich ergeht. Eine Entscheidung steht an, ein neuer Weg muss gefunden werden, es ordnet sich gerade etwas neu. Dann braucht es Ausharren, Aushalten, Geduld. Die Pause schafft Platz. Damit Neues kommen kann und auch wirklich Raum findet.

Wenn ich an den Wendepunkten meines Lebens „zu flach atme“, zu hektisch bin, zu sehr dem Aktionismus verfalle, dann kann es sein, dass es das Neue bei mir sehr schwer hat.


Christi Himmelfahrt ist so gesehen ein geradezu emanzipatorischer Akt. Ab sofort müssen die Jünger ohne Jesus weiter, er ist von nun an nicht mehr ihr großer Lenker und Alles-für-sie-Entscheider, dem sie die Verantwortung zuschieben können. Nein, sie müssen jetzt selbst. Jesus sagt: „Wer an mich glaubt, von dessen Leib werden Ströme lebendigen Wassers fließen.“ Aber erst sein Fortgehen, erst die Trennung von diesem geliebten Menschen schafft den Raum dafür, dass sein Geist tatsächlich durch die Jünger hindurchfließen kann.

Das will erst einmal verstanden sein. Dazu braucht es das Innehalten, die Pause. Bei den Jüngern damals. Und mitunter auch bei mir heute.


Ich mag Berge. Ich mag den Moment, ganz oben zu stehen und die Luft durch mich hindurchfließen zu lassen.
Überhaupt mag ich solche Momente der Pause. Ich verstehe sie als von Gott geschenkt. Und ich ahne, dass ich sie brauche. Damit in mir Raum wird für alles das, was er mit mir vorhat.

Superintendent Jürgen Schilling