„Gedrückt, gerüttelt und überfließend!“

26. Jun 2021

Jesus Christus spricht: „Ein volles, gedrücktes, gerütteltes und überfließendes Maß wird man in euren Schoß geben; denn eben mit dem Maß, mit dem ihr messt, wird man euch zumessen.“ Lukas 6;38

Zu Lukas 6,38 (aus dem Evangelium am 4. Sonntag nach Trinitatis)


I. Im Bäckerladen am Tresen
Samstagmorgen. Die Schlange in der Bäckerei ist lang. Bis hinaus stehen die Leute und warten. Unter ihnen auch ein Vater mit seiner 4-jährigen Tochter. Als die beiden an der Reihe sind, der Vater gerade sagen will, welche Brötchen er heute haben möchte, sagt die Bäckersfrau: „Stopp!“ Fröhlich lachend kommt sie hinter ihrem Tresen hervor, geht in die Hocke und gibt dem Mädchen eine Brezel in die Hand. Das kleine Mädchen schaut zum Papa auf, er nickt ihr zu, daraufhin sagt es mit dünnem Stimmchen „Danke“ und schaut verschämt auf das kleine Stück Backwerk. Die Bäckersfrau geht zurück hinter den Tresen und fragt nun den Vater, was er heute möchte.
Alle in der Schlange haben ein Lächeln im Gesicht. Man kennt sich. Man kennt auch das soeben Gesehene. Es ist jedes Mal so, wenn ein Kind mit Vater oder Mutter am Verkaufstresen steht. Dann kommt die Bäckersfrau hinter ihrem Tresen hervor und reicht dem Kind etwas. Umsonst. Sie reicht es nicht einfach über den hohen Tresen, nein, sie kommt herum, kniet nieder, schaut auf Augenhöhe direkt in das kleine Gesicht und verschenkt, was sie zu verschenken hat. Die Schlange der Wartenden kann noch so lang sein, so macht sie es, seit vielen Jahren.

II. Zweierlei Maß
Es gibt jene, die füllen das Maß so, dass alles richtig ist, dass alles seine Ordnung hat und es gerecht zugeht. Und es gibt jene, die drücken das Ganze noch einmal zusammen und dann passt mehr hinein.
Beide haben Recht. Die einen, weil ein Maß, ein Maß ist, die anderen, weil sie es drücken, rütteln und überfließen lassen und es ist immer noch ein Maß.
Wenn die einen die anderen sehen, sagen sie: „Das ist doch nicht gerecht!“ „Ich will auch!“ „Da könnte ja jeder kommen!“ Und: „Wo bleibt denn das Eichamt?“
Die anderen sagen: „Nimm’s doch nicht immer so genau!“ „Sei großzügig!“ Oder: „Einen fröhlichen Geber hat Gott lieb.“ (2Kor 7,9)
Und beide sind im Recht.

III. Jesus verschiebt das Maß
Jesu Feldrede im Lukasevangelium ist einen Tick schärfer als es seine Worte in der Bergpredigt des Matthäus sind. Sie treffen uns mitten in unserem Zusammenleben. Es sind aber auch Worte für die große Politik. Denn Jesus schärft unseren Blick auf Recht und Gerechtigkeit. Und verschiebt das Ganze: Aus dem Bereich des Gerechten, des Korrekten geht Jesus einen entscheidenden Schritt in Richtung Barmherzigkeit. Aus einem „Das ist in Ordnung, so ist es richtig.“ macht er ein „Das ist ja mehr als ich erwartet hatte.“
Wir kennen die Frage: „Darf es ein wenig mehr sein?“ Dann wissen wir, dieses „Ein wenig mehr“ landet auf der Waage, zeigt zusätzliche Gramm an und der Preis ist entsprechend höher. Das ist geltendes Recht.
Gerecht im Sinne der Barmherzigkeit meint: Es gibt mehr und das landet nicht auf der Waage und es wird nicht abkassiert.

IV. Unser Glaube
Unser christlicher Glaube steht für dieses Mehr, für das volle, gedrückte, gerüttelte und überfließende Maß. Jenes Maß, für das der Weg um den Tresen herum gegangen wird. Ein Maß, das austeilt, ohne zusätzlich abzukassieren.
Unser Glaube widerspricht solchen Sätzen wie „Das geht doch nicht!“ „Da könnte ja jeder kommen!“ „Wir haben hier nichts zu verschenken!“
Unser Glaube widerspricht dem Heer derer, die fürchten, dass andere mehr Wohlstand haben, mehr Heimat, mehr Liebe, ein Brötchen umsonst. Ihnen widerspricht er und sagt: „Was siehst du den Splitter in deines Bruders Auge, aber den Balken im eigenen Auge nimmst du nicht wahr?"
Denn unser Glaube will mehr. Mehr Barmherzigkeit. Mehr Liebe. Größere Nachsicht. Größere Großzügigkeit. Er verbindet die Gesetze der Gerechtigkeit mit denen der Großzügigkeit.

V. Noch einmal: Im Bäckerladen am Tresen
In der Schlange vor dem Tresen wippt einer der Wartenden ungeduldig und murmelt: „Warum geht es denn nicht weiter!?“ Da erntet er entrüstete Blicke von den anderen. Ihr Herz hatte mit dem beschenkten Kinderherz ebenso einen kleinen Sprung gemacht. Seines offenbar nicht.
Der Dank gehört der Bäckersfrau. Ein ganzes Berufsleben läuft sie um den Tresen herum und verschenkt Gebäck. Statt es auf die Waage zu legen, drückt sie es in Kinderhände. Und rüttelt damit die Herzen derer, die dabeistehen. Und füllt sie. Sie lernen ein Gottesgesetz: Wer dem anderen gönnt, kommt nicht zu kurz, sondern wird selbst zum Beschenkten.
Das ist wahrer Gottesdienst und dient der Gerechtigkeit unter uns mehr als jedes Eichamt es je könnte.


Superintendent Jürgen Schilling, 24. Juni 2021,
basierend auf einer Idee seines befreundeten Kollegen, Pastor H. Kiene, Ahlbeck