Begegnung mit einem alten Freund

30. Apr 2021

Früher war ich kein Losungsleser, habe diese Form der täglichen Bibellektüre eher argwöhnisch beäugt und sie schien mir etwas für alte Leute zu sein.

Nein, das hätte ich nicht gedacht: Dass ich einmal Losungsleser werden würde. Ich kenne das kleine blaue Heft, in dem für jeden Tag des Jahres zwei Sätze aus der Bibel stehen, von Kindesbeinen an, sah sie schon bei meiner Oma auf dem Tisch liegen, bei meinen Eltern sowieso. Und bei meiner Arbeit im Krankenhaus begegnet sie mir auf manchem Nachttisch. Mit jugendlicher Überheblichkeit habe ich diese Form der täglichen Bibellektüre früher eher argwöhnisch beäugt, fühlte ich mich doch zu sehr in ein Korsett aus Regeln gezwungen – „dass man das so macht an jedem frühen Morgen“. Und außerdem schien es mir eher etwas für alte Leute zu sein. Jugendliche Überheblichkeit, Sie wissen schon. Nun: inzwischen bin ich tatsächlich älter geworden und sicherlich auch ein gutes Stück demütiger. Auch wenn ich nicht jeden Morgen ins blaue Büchlein schaue, spüre ich doch die Kraft, die aus dem Rhythmus der regelmäßigen Lektüre zu mir kommt. Vertraute Verse stellen sich dann in mein Leben wie alte Bekannte, neue kommen hinzu und bieten mir ihre Freundschaft an. Was sie zu mir sagen? Vielleicht so: „Ich will dich durch diesen Tag begleiten, dir Trost sein oder dich sogar verwirren, damit Neues in deinem Denken und Fühlen Platz finden kann.“ Ein feiner Impuls für mein Leben…
Vergangene Woche traf ich an meinem Schreibtisch einen ‚alten Bekannten‘: „Seid fröhlich in Hoffnung, geduldig in Trübsal, beharrlich im Gebet“ heißt ein Vers aus dem Römerbrief. Er begleitete mich an ein Sterbebett auf der COVID-Station, wo die Hoffnung ganz groß war, dass dieser Tod nicht das Ende bedeutet, sondern den Anfang eines neuen Lebens verspricht. Mit einer anderen Patientin tauschte ich mich über die Geduld aus, die ihr der langwierige Heilungsprozess abverlangt. In diesen beiden und in anderen Gesprächen erlebte ich, was der zitierte Bibelvers und mehr noch die Beharrlichkeit des Gebets für eine Kraft entfaltete, Menschen berührte, Trost schenkte, weil sie spürten, dass sie mit all dem, was sie bewegte, nicht mehr allein waren, jemand ein gutes Wort für sie einlegte. Und so ging ich diese Tage mit ‚meinem alten Freund‘ über die Stationen und stellte ihn hier und dort vor. Angesichts all der Fröhlichkeit, die auf die Begegnungen mit ihm folgte, war ich so dankbar dafür, dass das eingangs erwähnte blaue Büchlein (fast) täglich zum Rhythmus meines Lebens gehört.
 
Matthias Zentner

Matthias Zentner

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