Alles auf Anfang

12. Apr 2021

Wie schön wäre das, von Neuem geboren zu werden. Befreit von so mancher Last aus der bisherigen Lebensgeschichte. Befreit von Worten, die besser nicht gesagt worden wären...

Sachte schiebt die Krankenschwester das Kind über den Flur an mir vorbei. Ich werfe einen Blick hinein. Die Decke ist so groß, dass der kleine Kopf kaum zu sehen ist. Es ist nur ein kurzer Augenblick, dann geht jede von uns weiter. Immerhin wartet eine Mutter auf ihr Neugeborenes. Meine Gedanken bleiben noch für einen Moment bei diesem Kind hängen.
Wie schön wäre das, von Neuem geboren zu werden. Befreit von so mancher Last aus der bisherigen Lebensgeschichte. Befreit von Worten, die besser nicht gesagt worden wären. Befreit von schmerzenden Erinnerungen. Befreit vom dicken Fell, das im Laufe des Lebens gezwungenermaßen gewachsen ist und das manchmal schwer auf den eigenen Schultern liegt. Befreit von Enttäuschungen, die bis heute schmerzen. Befreit von Schubladen, in die ich sortiert bin und in die ich Menschen sorgfältig geordnet habe. Befreit von der Frage, was wäre geworden, wenn... Nochmal neu. Alles auf Anfang.


Ostern ist so ein Alles-auf-Anfang-Moment. Durch die Auferstehung Jesu wurden die Karten neu gemischt: Verschlossene Türen können sich öffnen; nach einem Ende kann es einen neuen Anfang geben – und die Erzählungen in den Evangelien machen deutlich, dass das schon jetzt möglich ist und nicht erst nach dem Tod passiert. Petrus, der eben noch Jesus verleugnet hatte, wird zum Chef der Jerusalemer Gemeinde. Thomas, der eben noch an dem Auferstandenen gezweifelt hatte, wird zum ersten, der Jesus als „Mein Herr und mein Gott“ bezeichnet. Paulus krempelt sein Leben um und reist kreuz und quer durch den Mittelmeerraum, um von seiner Hoffnung zu erzählen. Neue Anfänge gibt es im Hier und Jetzt. Bis heute.


Meine Gedanken bleiben noch für einen Moment bei dem Anblick des neugeborenen Kindes. Wie das wohl wäre, von Neuem geboren zu werden? Würde das Leben grundlegend anders verlaufen? Oder würden sich mit der Zeit ähnliche Lasten und Narben ansammeln? Ich habe eine Tendenz, was die Antwort angeht, aber ich werde es nie erfahren. Die Osterzeit kommt mir da gerade recht. Denn sie erinnert mich an die Hoffnung auf neue Anfänge: Befreit zu unvoreingenommenen Begegnungen. Befreit zu neuen Schritten auf weitem Raum. Befreit zu achtsamen Worten. Befreit zu neuen Perspektiven auf Situationen, die bislang zu verworren schienen. Befreit zur vorbehaltlosen Liebe. Befreit dazu, ein unbeschriebenes Blatt zu sein. Nochmal neu. Alles auf Anfang. Selbst in hohem Alter. Der Blick zurück auf Ostern lässt mich zuversichtlich nach vorne schauen.


Saskia Lieske