Zweierlei Tränen

21. Feb 2020

„Du sammelst meine Tränen in deinen Krug“ heißt es in der Bibel im 56. Psalm. Tränen stehen für Traurigkeit und Ohnmacht. Gegen manches Leid kann man nichts tun. Oder vielleicht doch?

Wort der Kirche am 22. Februar 2020 im Halberstädter Tageblatt

Zweierlei Tränen
Eigentlich wollte ich an dieser Stelle über meine Eindrücke aus meinen ersten sechs Wochen im Kirchenkreis schreiben. Ich habe erlebt, wie bunt und vielfältig Kirche hier in unserer Region ist. Ich staune, wie fröhlich wir Christinnen und Christen Kirche gestalten und wie beeindruckend so manches Projekt ist.

Aber nun ist der mörderische Anschlag von Hanau dazwischen gekommen. Elf Menschen sind tot. Schlimm ist das. Wieder suchen wir nach Worten. Bereits der Anschlag auf die Synagoge in Halle ließ uns fassungslos zurück. Nun also in der hessischen Stadt Hanau. Und wir fragen uns: Was kommt morgen? Wo soll das noch hinführen?

„Du sammelst meine Tränen in deinen Krug“ heißt es in der Bibel im 56. Psalm. Tränen stehen für Traurigkeit und Ohnmacht. Gegen manches Leid kann man nichts tun. Der Bericht eines der Überlebenden treibt mir Tränen in die Augen. Erschrocken und ohnmächtig sind wir beide. Ich kann nicht anders, als mit ihm weinen. Gott sei Dank sind unsere Tränen nicht sinnlos. Gott sammelt sie, sagt der Psalm. Und ich denke: Bei Gott sind sie gut aufgehoben.

Neben den Tränen der Trauer gibt es aber auch Tränen der Wut. Wie kann einer hingehen und auf Menschen schießen, einfach so? Nun heißt es, der Mann sei psychisch krank gewesen. Aber das ist nur die eine Wahrheit. Die andere: Er hat die Menschen umgebracht, weil er Ausländer, Fremde, Nichtdeutsche töten wollte. Sein Irrsinn hatte eine Projektionsfläche in jenem Hass, dem andere derzeit kräftig den Boden bereiten. Alle, die von „Überfremdung“ und „Messermigration“ reden. Jene, die Geflüchtete pauschal verdächtigen. Diese Leute laden zwar nicht selbst die Pistolen der Mörder. Aber sie sind mit verantwortlich für die Atmosphäre, in der sich der Mörder von Hanau auf der richtigen Seite wähnte, als er friedlichen Menschen in den Kopf schoss. Schlimm ist das.

Aber Gott sei Dank gibt es keinen Grund zur Resignation, im Gegenteil. Wir anderen sind mehr. Wir, die wir keinen Hass wollen. Und wir sind gefragt. Jede und jeder Einzelne steht in der Pflicht. Das fängt bei schlechten Witzen an und hört nicht auf, wo Alltagsrassismus von uns unwidersprochen bleibt. Wenn wir mehr tun wollen als trauern, dann lasst uns den Hasspredigern Einhalt gebieten.
Jesus sagt: „Selig sind, die Frieden stiften, denn sie werden Gottes Kinder heißen.“ (Mt 5,5) Ich jedenfalls möchte solch ein Gotteskind sein.

Jürgen Schilling, Superintendent des Kirchenkreises Halberstadt