Vollkommene Momente

01. Feb 2020

Oft fragen wir uns - kann es nicht alles so bleiben, wie es gerade ist? Weil es so schön ist, haben wir Angst vor der Vergänglichkeit der Einzigartigkeit. Und mit dieser Ängstlichkeit verderben wir die Einzigartigkeit.


Ich stehe ganz allein auf dem Gipfel. Ein herrlicher Ausblick. Der Schnee glänzt, die Luft ist klar. Die Sonne scheint. Eine schier unendliche Weite und Größe hat dieser Ausblick. Mühsam, anstrengend war der Weg hinauf auf diesen Berg. Aber das zählt nicht mehr. All das ist vergessen. Diesen Moment möchte ich festhalten. Mit den klammen, blau gefrorenen Fingern versuche ich das Smartphone dazu zu bewegen, dieses herrliche Gipfelpanorama festzuhalten. Natürlich ist der Akku fast leer. Und dann fällt mir auch noch das Smartphone in den Schnee, als ich versuche, es wieder in den Rucksack zu packen. Alles ist in diesem Moment so vollkommen - die Berge, der Sonnenschein, der Luft. Nur ich - ich bin es in diesem Moment nicht. Einfach schlecht vorbereitet, arbeitet es in meinem Kopf.
Ortswechsel: Quedlinburg im Jahr 2017. Die Kanzlerin ist in der Stadt. Der ganz Marktplatz ist voller Menschen. Zuneigung und Abneigung halten sich in Waage - und viele Menschen sind wie ich einfach gekommen, um die Kanzlerin einmal aus der Nähe zu sehen. Viel zu spät bin ich gekommen, stehe ganz weit hinten, an der Ecke der Sparkasse. Natürlich viel zu weit weg, um ihr vielleicht einmal die Hand zu geben, mit ihr zu sprechen. Plötzlich werden die Menschen neben mir unruhig. Da sehe ich die Leibwächter, wie sie ihr den Weg durch die Menge bahnen. Da kommt sie schon, fast auf mich zu. Um diesen Moment festzuhalten, zücke ich das Smartphone. Natürlich. Akku alle. Und da ist sie auch schon vorbei. Wie ärgerlich. Einfach schlecht vorbereitet, arbeitet es in meinem Kopf.
Vollkommene Momente. Danach sehnen wir uns. Momente, in denen einfach alles stimmt. Die Jünger Jesu erlebten so einen Moment. Auf einem Berg begegnet ihnen der Prophet Elia und Mose. Sie sind bei ihnen, sie hören sogar ihre Worte. Und was tun die Jünger? Sie beschließen, mitten auf dem Berg drei Hütten zu bauen, um diesen Moment festzuhalten. Für immer. Aber genau das geschieht nicht - schon sind Elia und Mose verschwunden, Jesus bleibt mit ihnen allein zurück. Anstatt diesen einzigartigen Moment anzunehmen, so wie er ist, beschäftigen sich die Jünger mit den profanen Fragen des Baus dreier Laubhütten.
Oft fragen wir uns - kann es nicht alles so bleiben, wie es gerade ist? Weil es so schön ist, haben wir Angst vor der Vergänglichkeit der Einzigartigkeit. Und mit dieser Ängstlichkeit verderben wir die Einzigartigkeit.
Am Ende der Weihnachtszeit wünsche ich Ihnen - nein, keinen stets aufgeladenen Akku - sondern ein offenes Herz. Um die Momente anzunehmen, die wir nicht vorausahnen können.
Markus Kaufmann