Nachts im TV

03. Jul 2020

Erzählte Geschichten sind besser als jedes Fernsehprogramm.

Zu meinen Aufgaben als Krankenhausseelsorger gehört es auch, Besuche in zwei Pflegeheimen zu machen, alten Menschen zuzuhören, mir erzählen zu lassen, was sie bewegt. Manche Geschichte aus schrecklichen Krisenzeiten bewegt mich noch lange, manche Traurigkeit über den Zustand der Welt rührt mein Herz. Ich bin allerdings noch nicht so weit gekommen, dass ich nur noch Tiersendungen und Volksmusik im Fernsehen schaue, weil alles andere kaum mehr zu ertragen ist. Aber wenn ich nachts in den Nachrichten sehe, wie Polizisten Menschen bis zum Tode quälen, nur weil sie eine andere Hautfarbe haben: dann wird mir wirklich schlecht, verstehe ich schon, warum die Älteren ein anderes Programm wählen. Dazu muss ich gar nicht bis in die USA schauen, die sich im Blick auf Menschenrechte, internationale Verlässlichkeit und Vorbildwirkung seit einiger Zeit selbst demontieren.
Wenn farbige Menschen aus Stuttgart oder Halberstadt berichten, dass Fahrgäste in der Straßenbahn ihre Handtasche krampfhaft festhalten, wenn sie sich neben sie setzen, dann ist dieser Alltagsrassismus kaum zu ertragen. Solche Berichte schmerzen mich so, dass ich am liebsten das Programm wechseln würde (siehe oben), oder die Flimmerkiste ausschalten mag. Aber nein: ich finde, dass ich mir das anschauen muss, um zu wissen, in welcher Welt ich lebe, was Menschen ertragen müssen.
Nun mag ich hier nicht so gern moralinsauer bewerten, was die Anderen falsch machen. Meine Bibel (und auch mein Alltag) lehren mich, dass ich nicht ohne Fehler bin, dass auch ich immer wieder auf die Großzügigkeit und Umsicht meiner Mitmenschen angewiesen bin. Trotzdem muss Unrecht genannt werden, was unrecht ist. Sich klein zu machen, sich in die Beschaulichkeit des Schrebergartens zurückzuziehen, die Augen zu schließen wäre aus meiner Sicht die Variante, von der Predigttext für den 5. Juli 2020 zunächst spricht: „Lass dich nicht vom Bösen überwinden…“ schreibt der Apostel Paulus an die christliche Gemeinde in Rom. Und lässt es bei dieser Aufforderung, sich und seine Seele zu schützen, nicht bewenden, sondern denkt den Gedanken weiter: „… sondern überwinde das Böse mit Gutem.“ Dass das schwer ist, liegt auf der Hand. Dass es aber möglich ist, erzählen mir „meine“ alten Leute: dass sie erleben durften, dass sie nicht daran gemessen wurden, was die Generation ihrer Väter im Krieg verbrochen haben. Dass im Geist der Vergebung Frieden in Europa möglich wurde, wie es ihn so lange noch nie gegeben hat. Dass Streit und Trennung viel zerstören, aber dass erlebte und geschenkte Vergebung wieder frei machen, um neue Schritte zu wagen, Gutes Wirklichkeit werden zu lassen. Solche Geschichte erzählt zu bekommen ist besser als jedes Fernsehprogramm, das können Sie glauben!

Pfarrer Matthias Zentner, Seelsorger im Harzklinikum Quedlinburg