Wir sind mehr

10. Sep 2018

Christoph Carstens

Das ist eine beruhigende Nachricht: Es sind mehr, die sich in Chemnitz öffentlich versammeln, um gegen Hass und Aushöhlung der Demokratie ihre Stimme zu erheben. Mehr als die, die sich dafür stark machen, vermeintlich Fremde fortzujagen, die Ordnungsmacht an sich zu reißen und die Verachtung gegen Menschen anderer Herkunft, anderer Lebensführung, anderer Kultur … zur Leitkultur zu erheben. Die Kirchen in Chemnitz haben sich mit auf die Seite derer gestellt, die „mehr sind“. Dabei ist das nur eine schöne Überschrift. Ja, es ist beruhigend, wenn viel mehr für ein offenes und friedliches Land und eine lebendige Kultur des Miteinander eintreten als die, die das Gegenteil zu ihrem Ziel gemacht haben. Aber dass sie mehr sind, reicht wohl alleine nicht aus. Christen können von vielen Situationen Zeugnis ablegen, wo sie nicht mehr waren als andere, wo sie übertönt wurden, keine guten Argumente auf ihrer Seite hatten und sich am Ende selbst nicht mehr ganz sicher waren, ob es seine Richtigkeit hat mit Glauben und Gottvertrauen. Es muss dann auch aus der Erfahrung „wir sind wenige“ möglich sein, stark zu bleiben und treu. Das bedeutet ja nicht, sich auf betonierte Positionen zurückzuziehen, die man zur Not auch ganze alleine gegen den Rest der Welt verteidigt. Sondern es bedeutet, sich den Spielraum zum Weiterdenken und zum engagierten Handeln zu erhalten, also nicht alle Abwägungen erst abzuwarten, bevor man sich vielleicht entschließen kann, tätig zu werden. Und nicht abzuwarten, ob man irgendwann doch eine Mehrheit auf seine Seite bringen kann, um dann aktiv zu werden. Das bedeutet auch, nicht allzu gebannt auf die Verhältnisse von Mehrheiten und Minderheiten zu gucken. Es hat schon lange Zeiten gegeben, wo denen, die „mehr sind“, um so mehr widerstanden werden musste. Es wird, glaube ich, zu der gesellschaftlichen Entwicklung in den kommenden Jahren keine christliche Position geben können, die sich ganz allein behaupten kann. Christlicher Glaube ist eine sehr engagierte und entschiedene Stimme im Gespräch aller, aber nicht die einzig maßgebliche. Es schmerzt vielleicht ein wenig, sich das einzugestehen. Schließlich sind solche Bibelworte wie „Meinen Frieden gebe ich euch; nicht gebe ich euch, wie die Welt gibt; euer Herz erschrecke nicht und fürchte sich nicht!“ aus dem beeindruckenden Johannesevangelium nicht nur Meinungsäußerungen. Sondern das sind die zentralen Bezugspunkte von Christen, die in der Gegenwart leben und die verstehen, was sie mit solchen Jesus-Worten heute anzufangen haben. Sollte es abseits davon andere Positionen geben, die das gleiche Gewicht beanspruchen dürfen? Die Bibel hat sich nie an die Stelle gesetzt, das letzte Wort zu sprechen. Christen wissen das. Sie nehmen das, was da von Jesus Christus gesagt wird, als elementare Grundlage für den Glauben und die Lebensgestaltung. Aber sie setzen das, was ihnen so wichtig ist, neben das, was andere bewegt, woran andere Halt und Glauben finden. Wenn es darum ginge, die einzige Wahrheit für alle Zeiten zu finden, würde man sich mit der Bibel in der Hand schnell verirren. Sie liefert so etwas nicht. Deshalb werden die, die „mehr“ sind, immer auch vielfältig sein. Sie werden miteinander reden, ja vielleicht sogar verhandeln müssen. Sie werden sich gar nicht immer einig sein. Manchmal werden sie mehr Trennung denn Einigkeit spüren. Und doch liegt darin der Keim des guten Zusammenlebens und einer sich entwickelnden Gesellschaft. Mehr sind wir, nicht weil wir in den Überzeugungen einfarbig sind, sondern weil wir im vielfältigen Miteinander eindeutig und erfahren sind.

Christoph Carstens, Pfarrer in Quedlinburg und Westerhausen