Wann weicht die Nacht dem Tag?

30. Jan 2017

Renate Rath

Lokales / GEDANKEN ZUR ZEIT / RENATE RATH Klinikseelsorgerin an der Lungenklinik Ballenstedt

Wann weicht die Nacht dem Tag?

„Ein Rabbi fragt einen gläubigen Juden: Wann weicht die Nacht dem Tag?
Dieser versucht eine Antwort zu finden und sagt: Vielleicht, wenn man den ersten Lichtschimmer am Himmel sieht? Oder wenn man einen Busch schon von einem Menschen unterscheiden kann? Nein, antwortet der Rabbi. Die Nacht weicht dem Tag, wenn der Eine im Gesicht des Anderen die Schwester und den Bruder erkennt. Solange das nicht der Fall ist,
ist die Nacht noch in uns!

Warum erzähle ich Ihnen diese Geschichte?
Weil mir die zunehmende Gewaltbereitschaft in unserem Land, das Gewaltpotential in uns selbst und die zunehmenden und ansteckenden Hasstiraden in der Bevölkerung Angst machen. Davor und vor diesen Menschen mitten unter uns habe ich Angst.
Andere haben Angst, das Pensum in der Arbeit nicht mehr zu bewältigen oder den gesellschaftlichen Anforderungen nicht mehr zu genügen.
Manche leiden, weil sie keine Arbeit finden und ihren Kindern nicht die gesellschaftlich anerkannte Kleidung, Freizeitmöglichkeiten oder Reisen bieten können.
Menschen, die zu uns kommen, haben Angst durchgestanden und leben nun in der Furcht, hier nicht bleiben zu können.
Wenn ich an all diese Ängste und die dahinter stehenden Probleme denke, dann verdunkelt sich meine Zukunftsperspektive und mein Blick wird getrübt.

Wie können wir anders mit unseren Ängsten umgehen?
Mittelfristig und langfristig benötigen wir alle ein neues Problembewusstsein, das nicht nur an der Oberfläche kratzt und in gesellschaftlich eingeübten Aufgeregtheiten sich erschöpft. Angesichts aller ungelösten Fragen benötigen wir Geduld und Einfühlungsvermögen für Lösungsansätze zu einer neuen Gerechtigkeit in unserem Land, aber auch in Afrika, Asien und den arabischen Ländern.
Und wir brauchen Mut, auf den ganz Anderen zuzugehen und ihn, seine Geschichte oder ihre Familie kennen zu lernen.

Am vergangenen Sonntag waren wir, zwei Ballenstedter Frauen und ein junges Ehepaar aus Halle zu einem Tauffest in Halle eingeladen.
Diese Einladung war ein Dank für erfahrene Hilfe.
Die besondere Gastfreundschaft, die Lebensfreude, die Musik, die prächtigen Farben der Festgewänder von Tauffamilie und Gottesdienstfeiernden und die immer wieder zum Ausdruck gebrachte Dankbarkeit haben mich tief berührt, bewegt und beschenkt.

Ich wünsche uns allen nicht die um sich greifenden Hasstiraden, sondern diese ansteckende Lebensfreude.
Ich wünsche uns nicht angstgesteuerte Abgrenzungsbemühungen, sondern stattdessen diese herzliche Dankbarkeit.
Ich wünsche uns nicht gewaltbereite Mitbürger genährt aus Zukunftsangst, sondern diese tief verwurzelte Glaubenshoffnung.

All dies, Toleranz, Sehnsucht nach neuer Gerechtigkeit, Lebensfreude, Herzensdank und Glaubenshoffnung, wird uns gut tun, damit die Nacht in unserem Abendland weichen kann und dem Morgen Platz macht, weil wir im Gesicht des Anderen unseren Bruder und unsere Schwester erkennen können.
In dem biblischen Jahresmotto für 2017 verspricht Gott uns ein neues Herz und einen neuen Geist. So sei es!