Reise ohne Kompass

03. Nov 2018

Zu Hunderttausenden fliegen sie in diesen Tagen in den Süden. Ohne Kompass, ohne GPS, ohne Reserveflügel und ohne Proviantkorb.

Reise ohne Kompass

Zu Hunderttausenden fliegen sie in diesen Tagen in den Süden. Ohne Kompass, ohne GPS, ohne Reserveflügel und ohne Proviantkorb. Sie lassen einfach alles stehen und liegen. Von einem Moment auf den anderen sammeln sie sich auf den Feldern und Dächern und einen sich auf eine lange Reise. Irgendwie ist das immer ein Anblick, der etwas Wehmut auslöst, all die Vögel zu sehen, die uns in den nächsten Monaten nicht mit ihrem fröhlichen Gesang erfreuen können, weil sie unseren Gegenden wärmere Gefilde vorziehen.

Den Vögeln ist eine Unbekümmertheit eigen, die bewundernswert ist: Sie begeben sich auf einen Weg, den sie nicht kennen, und trotzdem erreichen sie ihr Ziel. Sie vertrauen auf ihren Instinkt. Mitten im Jahr fliegen sie einfach los, verlassen die gewohnten Wege, Futterplätze, die Bäume und Sträucher, die ihnen lieb geworden sind.

Können wir so einfach loslassen, losfliegen? Es fällt schwer. So viel gibt es zu ordnen, zu organisieren. Noch schwerer ist es, jemanden loslassen, losfliegen zu lassen. Zu verstehen, wenn sich ein Mensch von einem zum anderen Tag ändert. Oft fragen wir uns: Wo wollen wir hin? Was ist unser Ziel?

Ein Lied unseres Gesangbuches beginnt mit den Worten „Vertraut den neuen Wegen, auf die der Herr uns weist“. Nicht den Zielen ist dieses Lied gewidmet, sondern dem Weg. Wir dürfen einem Weg Vertrauen schenken, den wir nicht kennen, in der Gewissheit, dass wir geleitet werden. Wie die Vögel: Niemand zeigt ihnen den Weg – und doch finden sie ihn. Sie vertrauen auf ihren Instinkt, auf etwas, was sie nie erlernt haben, und doch können. Einmal mitten im Jahr umzukehren, einem neuen Weg Vertrauen schenken - vielleicht ist jetzt gerade der Moment dafür gekommen?

Markus Kaufmann, Kirchenmusiker in Quedlinburg