Menschlichkeit in die Waagschale werfen

09. Aug 2015

Hans Jaekel

Wie heißt es so schön: "Wem viel anvertraut ist, von dem kann man umso mehr fordern." Einem Bürgermeister vertrauen wir Macht an. Einem Banker unser Geld, der Kindergärtnerin unsere Kinder. Der Chef vertraut und betraut dem Arbeiter bezahlte Zeit an. Das Zitat stammt von Lukas aus der Bibel und hat einen zweiten Teil: "Wem viel gegeben ist, bei dem wird man viel suchen."

Interessant ist doch, dass bei beiden Zitaten davon auszugehen ist, dass es immer jemanden gibt, von dem der Mensch profitiert. Jemand vertraut mir etwas an und ich habe die Aufgabe, etwas daraus zu machen. So geht es dem Bürgermeister, dem Banker, der Kindergärtnerin, dem Arbeiter auf der Baustelle.

Und sehr vielen Menschen ist sehr viel anvertraut worden. Intelligenz, Liebe, Schönheit, Sprachgewandtheit, Kreativität und Geschick. Wer hat uns Menschen so viel anvertraut, dass wir fröhlich und dankbar und mit anderen gemeinsam etwas in die Waagschale des Lebens werfen können? Da mag jeder unterschiedlich antworten. Ich bin Gott dankbar, dass er mich reich beschenkt hat.

Dabei wird mir deutlich, "wem viel gegeben ist, bei dem wird man viel suchen." Das betrifft nun auch unser Volk. Uns ist doch viel gegeben? Vor allem nach der friedlichen Revolution und der deutschen Einheit. Oder? Wirtschaftswachstum; ein Sicherheit spendendes Renten- und Versicherungssystem; eine friedliche Entwicklung zwischen uns Menschen; ein demokratisches Gemeinwesen. Andere Völker vertrauen uns. Sie vertrauen unserem Asylrecht. Sie vertrauen unserer Menschlichkeit. Und sie dürfen das auch. Sie können uns in unserer Menschlichkeit vertrauen.

Es war großartig zu erleben, wie Quedlinburger in dieser Woche das Vertrauen von Kriegsflüchtlingen in unser Land angenommen haben. Ja - uns ist viel anvertraut und von uns darf gefordert werden. Wir Quedlinburger und viele Bürger der Region nehmen das in uns gesetzte Vertrauen in unsere Menschlichkeit an. Ich fand es bewegend, als ein älterer Herr davon sprach, dass er als Kind vor dem Krieg flüchten musste und in Norddeutschland eine neue Heimat fand. Es gab Menschen, die das Vertrauen der Flüchtlinge annahmen. Wer das Vertrauen eines anderen Menschen annimmt, wird davon profitieren. Das ist die Voraussage der Bibel. Wenn wir einem Flüchtling die Tür öffnen, unser Herz öffnen und ihn einladen, dann entwickelt sich etwas zum Nutzen aller.

Ehrlich - es macht einen Riesenspaß, die Menschlichkeit in die Waagschale des Lebens zu werfen. Das spürten wir am Mittwoch in der Gartenbauschule. Man traf sich und freute sich, sich wieder zu sehen und plante die Hilfe für die Flüchtlinge.

Diakon Hans Jaekel

Vorstand der Evangelischen Stiftung Neinstedt

 

Gedanken zur Zeit / MZ QLB 8./9. August 2015