Engel

04. Dez 2014

Kerstin Schenk

Die Advents- und Weihnachtszeit ist die Zeit der Kerzen, der Engel, des Fensterschmucks, die Zeit der Lieder und Geschichten. Alte, schon vertraute Geschichten bekommen im Widerschein der Kerzen ein neues Gesicht. Neue Geschichten berühren unser Herz und unsere Seele, weil sie gerade in dieser Zeit darauf warten, berührt zu werden.

Ich habe eine Geschichte für Sie, die davon erzählt, dass sich Menschen berühren lassen, weit ab von den Geschenken, den geschmückten Zimmern und Wohnungen, weit ab vom Trubel um Weihnachten.

Da sind sie wieder diese Tage, an denen die einen voller Freude und Erwartung mit fröhlichen Gesichtern die Weihnachtsmärkte und Spielzeuggeschäfte bevölkern und besinnlich eine Kerze anzünden und die anderen, die mit ihrer Traurigkeit und dem Gefühl von Leere und Sinnlosigkeit versuchen, dieser Welt zu entfliehen.

Und alles konzentriert auf diesen Tag, den Abend, den sie „heilig“ nennen.

Sie schaut in den Spiegel, nichts aber auch wirklich nichts erinnert sie an die Frau, der sie sonst hier begegnet, die fröhlich das Makeup für den Tag auflegt, lächelt und andere mit ihrer Fröhlichkeit ansteckt. Alles ist anders geworden von einem auf den anderen Tag: Sorgen, Trauer, Angst, Zweifel und dieses entsetzliche Gefühl, zu nichts nutze zu sein, breiten sich in ihr aus und dann, dann das Wissen, dass dieser Abend kommen wird. Sonst hatte sie alles vorbereitet: schon Wochen vorher das Haus geschmückt, kleine Geschenke verpackt und  alles noch schöner gemacht als sonst. Jetzt möchte sie die Uhr anhalten oder der Zeit Flügel verleihen, dass dieser Tag ausfällt, nie erreicht wird. Die Lieder der anderen erfreuen sie nicht mehr, sondern wecken Trauer und Zorn.

Und nun ist er da, sie nimmt ihren Mantel und geht durch die Straßen der Stadt. Hinter geschmückten Fenstern hört sie fröhliches Lachen, helle Stimmen und vertraute Klänge, die sie aber nicht erreichen. Sie geht wie in eine Wolke gehüllt. Plötzlich hält sie einen kleinen verstaubten Engel mit Kerze in der Hand. Jemand hat ihn ihr in die Hand gedrückt, sie hat es kaum bemerkt, aber jetzt fühlt sie ihn: Fest und schwer liegt er in ihrer Hand.

Sie schaut ihn an. Er ist nicht mehr neu, hat deutliche Gebrauchtspuren, ein Flügel hat einen leichten Riss, an den Seiten fehlt die Farbe. Er trägt eine kleine Kerze in der Hand, die schon einmal gebrannt hatte. Erst will sie ihn wegschmeißen. Was soll sie mit dem gebrauchten Engel - sie, die in diesem Jahr nicht mal einen Adventskranz hatte, keinen Fensterschmuck, keine Kerzen!

Aber dann nimmt sie ihn doch mit und sie spürt, als sie den Engel in ihrer Manteltasche fest umklammert, dass von ihm eine besondere Kraft ausgeht, die ihr Herz erreicht. Zuerst kann sie es kaum glauben, aber dann nimmt sie ihn und geht nach Hause. Dort stellte sie den Engel auf den Tisch und zündet die Kerze an. Das Licht der Kerze schenkt ihrem Herz Frieden, so dass ein Stück Weihnachtsfreude sie erreicht. Nicht so wie in den anderen Jahren. Es ist eher eine stille, aber tiefe Freude. Freude, die ihren Ausdruck nicht im Lachen und im Überschwang hat, sondern eher in der Tiefe, im Nachdenken und vielleicht auch in einer Träne. Der Engel hat nun einen Platz auf ihrem Tisch, wann immer sie wie ihn an diesem Abend ansah, spürt sie diese tiefe Freude, die er verbreitet.

Später am Abend nimmt sie eine der Zeitungen der letzten Tage, die unberührt auf dem kleinen Schrank in der Küche liegen. Sie stockt, als sie hier in der Zeitung liest, dass dieser Engel in der Adventszeit von einem zum anderen weitergegeben wurde, von Menschen, die sich nicht kannten als Brücke zum anderen. War das ihr Engel, der die Freude von vielen Menschen  zu ihr mitbrachte. Dann entschließt sie sich, noch einmal loszugehen.  Sie steckt den Engel in ihre Tasche und weiß, dass die Freude in ihrem Herzen bleiben wird. Mit offenen Augen geht sie durch die nächtlichen Straßen und will ihre Freude weiterschenken, gerade an diesem Abend, den sie „heilig“ nennen…

Ich wünsche Ihnen, dass Sie Engel geschenkt bekommen und weiterschenken können, die Freude in Ihnen wecken, die Weihnachtsfreude, die nicht an der Oberflächlichkeit stehen bleiben will, sondern uns in der Tiefe berühren will. Freude, die an dem „Abend, den sie heilig nennen“ im Stall von Bethlehem begonnen hat, bei Gott, der uns in einem kleinen Kind begegnen will.

Ihnen allen eine gesegnete Advents- und Weihnachtszeit

Ihre Kerstin Schenk