Eine Million

03. Mai 2017

Christoph Carstens

Eine Million Aufrufe hat die Jugendliche L. erreicht mit ihren kleinen Filmen bei Youtube: Berichte vom letzten Shopping einschließlich Präsentation ihrer Schnäppchen, der Report über ihren gerade vergangenen 17. Geburtstag mit Vorstellung der Geschenke, Plaudereien aus dem Alltag einer Schülerin und kleine DIYs, also kurze Erklärungen zu irgendetwas Praktischem aus dem Alltag. Das Ganze präsentiert vor der selbst aufgebauten Kamera. Und sie selbst agiert wie ein Profi: perfekte „Maske“ und Frisur, tolles Outfit, geschickte, lebendige, freie Rede vor der Kamera. Da kann man sehen: Es macht ihr Spaß. Vielleicht viel mehr Spaß als die Hausaufgaben, die sie als Abiturientin irgendwie auch noch nebenbei fertig bekommen muss.

Eine Million. Das ist die magische Grenze, dann bekommt man dafür schon einen Eintrag bei Wikipedia, der auch nicht gleich wieder gelöscht wird. Und vielleicht erreicht sie dann auch schon mal die eine oder andere Anfrage aus der Welt der Großen, wo man Talente sucht (und hoffentlich nicht nur verwurstet – das möchte ich der Newcomerin jedenfalls wünschen).

Den meisten von uns wäre das mit der Million eher unheimlich: Eine Million Augenpaare, die sich auf mich richten – da stelle ich mir Angenehmeres vor. Und nicht jeder hat Lust, seine eigenen Geschichten und Geschichtchen so aufzubereiten, dass eine Million Leute daran Gefallen finden. Aber wo liegen unsere ganz alltäglichen Schallmauern und magischen Grenzen?

Ich kenne eine ganze Menge davon: Die zwei Stunden, wo das Handy mal aus bleibt. Die Geduld, der alten Mutter länger als die obligatorischen drei Minuten zuzuhören. Die Ausdauer, für den so schön eingefahrenen Konflikt im Büro weiter nach einer Lösung zu suchen. Die endlose Hoffnung, mal von Gott eine Antwort zu bekommen, die nicht gleich wieder aus hundert Fragen besteht. Das Glück, Frühlingsluft zu atmen.

Die Anmut, einander nahe zu sein.
Das sind die alltäglichen magischen Grenzen. Und so oft an jedem Tag nehmen Menschen sie tapfer und mutig in Angriff. Ich nehme mir vor, in allen, denen ich begegne, auch die Bezwinger hoher Barrieren zu sehen. Ich muss nicht wissen, welchen Jackpot die anderen jeweils in ihrem Leben geknackt haben. Aber seit mein Enkelkind jüngst sein erstes Wort gesprochen hat („Baum“), weiß ich, dass immerzu Grenzen überwunden werden, von jedem.

Herzlichen Glückwunsch Ihnen, wenn Sie die Million geschafft haben! Herzlichen Glückwunsch, wenn es Ihnen nichts ausmacht, die Million Gott zu überlassen! Er kennt sich mit solchen Zahlen bestens aus. Herzlichen Glückwunsch, wenn Sie sich an eine Schallmauer in Ihrem ganz persönlichen Universum gewagt haben!

Ihr Christoph Carstens, Pfarrer in Quedlinburg und Westerhausen