Behalten Sie Ihren Nächsten im Blick

30. Mai 2016

Christiane Scholze-Wendt

Von weitem hatte ich die junge Mutter erfreut bewundert, die ihre Tochter im Buggy zum Bahnhof schob und der Kleinen lebhaft und unaufhörlich etwas zu erzählen schien. Kommt leider selten genug vor, dass Eltern so intensiv mit ihren Kindern kommunizieren. Von weitem hatte es mich allerdings auch gewundert, wie unbeteiligt die Kleine im Buggy wirkte und den Blick zeitweise sogar von Mama abwandte. Aus der Nähe, als wir nämlich fast gleichzeitig in den Zug stiegen und unweit voneinander Plätze fanden, schnappte ich einiges von Mamas Redefluss auf: "Eh Alter, ich sach's dir, das geht gar nich. Die kommt mir nich mehr in die Bude. Die will mich volllabern, ich soll Mark das von Silvie mal erzählen, dabei geht die doch selber fremd..."

Ich bin irritiert. Jetzt kriege ich endlich mit, dass die junge Mutter per Freisprechsystem ihres Smartphones mit irgendjemandem kommuniziert, aber eben ausdrücklich nicht mit ihrer Kleinen. Das hält über die Dauer der Zugfahrt an. Die Situation schmerzt mich. Abgesehen davon, dass ich gar nichts von den Verwicklungen von Mark, Silvie & Co. wissen will und sie sich trotzdem in meine Gedanken bohren, tut mir die Kleine leid. Sie scheint zwar daran gewöhnt zu sein, dass Mama sie sowieso nicht meint, wenn sie in ihrem Beisein redet. Aber sie wirkt einsam. Mein Lächeln erwidert die Kleine kaum. Es scheint sie eher zu irritieren, weswegen sie ihrer Mama gegen das Bein tritt. Mama unterbricht ihren an eine(n) Unsichtbare(n) gerichteten Redefluss mit der kurz gefauchten unmittelbaren Anrede "Lass das!" - woran sich aber von der Kleinen nicht anknüpfen lässt.

Warum nehme ich diese relativ alltägliche Szene so schwer? Sie erinnert mich an Menschen, denen der direkte zwischenmenschliche Kontakt schwerfällt, weil sie es kaum kennen, zugewandt angesehen und angesprochen zu werden.

Ich denke daran, was ich in meiner seelsorgerlichen Tätigkeit im psychiatrischen Krankenhaus in Gruppenstunden mit suchtkranken Jugendlichen bei manchen von ihnen wahrnehme. Ein aufmerksamer Blick in ihr Gesicht irritiert sie. Direkt an sie gerichtete Worte verunsichern sie. Ausdrückliches Interesse an ihrem Schicksal stimmt sie misstrauisch.

Bei manchen steckt dahinter die häufige und vermutlich frühe Erfahrung: Ich bin sowieso nicht der (An-)Rede wert und (an-)sehenswert. Irgendwann haben sie es sich abgewöhnt, angesehen und direkt angesprochen werden zu wollen. Es braucht oft sehr lange, bis sie nachholen können, das direkte Kommunizieren von Angesicht zu Angesicht schätzen zu lernen. Bis dahin nehmen sie es als normal hin, sich in Gegenwart anderer Menschen oft einsam und nicht dazugehörig zu fühlen - wie die Kleine in ihrem Buggy im Zug: Mama ist da, aber sie ist nicht wirklich bei mir. Mama redet, aber sie meint nicht mich.

Liebe Leserinnen und Leser, behalten Sie Ihren - im wahrsten Sinne des Wortes - Nächsten im Blick. Pflegen Sie die Gewohnheit, im Umgang mit den Kleinen und Großen in Ihrer unmittelbaren Nähe ganz da und gut beieinander zu sein. Ein in diesem Sinne gut gelingendes und aufmerksames Miteinander wünscht Ihnen

Pfarrerin Christiane Scholze- Wendt